Der Bahnhof ist ein Schandfleck! Architekturwettbewerb und Aufregung

Dramatisch fallen die Worte aus, mit denen der Tiroler Anzeiger in seiner Nr. 282, am 12. Dez. 1923, über die wichtigste Verkehrsdrehscheibe urteilt:

Der verwahrloste Innsbrucker Hauptbahnhof

„Die baulichen und sanitären Zustände am Innsbrucker Hauptbahnhof geben schon seit Jahr und Tag fortwährend Anlaß zu berechtigter Kritik, aber alle diesbezüglichen Klagen werden mit der Ausrede mundtot gemacht, daß der Bahnhof sowieso umgebaut werde….Vom Eingange rechts an der Decke und an der Wand löst sich der Mörtel los und fällt auf die Reisenden, die dort den Fahrplan ablesen wollen.… So wie der bauliche Zustand des Hauptbahnhofes, der heute eine Schande der Landeshauptstadt darstellt, miserabel und, wenn noch länger von den verantwortlichen Stellen untätig zugesehen wird, für die Reisenden gefährlich ist, so sieht es direkt trostlos mit den Beleuchtungsverhältnissen aus. Es gehört eine Kunst und Virtuousität dazu, am Abend oder an nebeligen Tagen sich bei den Fahrplänen zurecht zu finden. Eine Stadt wie Innsbruck, die im Reise- und Geschäftsverkehr heute eine so wichtige Rolle einnimmt, sollte doch über die Krähwinkelverhältnisse schon hinaus sein. In sanitärer Hinsicht sind die Zustände direkt skandalös. Trotzdem überall Aufschriften angebracht sind: ´Ausspucken bei Strafe verboten!´ sind am hiesigen Hauptbahnhof weder in der Vorhalle, noch am Bahnsteig Spucknäpfe aufgestellt…. Der einzige Lichtpunkt unseres Bahnhofes ist die peinlich sauber gehaltene Bahnhofsrestauration des Herrn Karl Moser. Hoffentlich genügen diese Zeilen, um die Bahnverwaltung an ihre Pflichten der Reinlichkeit dem reisenden Publikum gegenüber zu erinnern. Wenn sie nichts nützen sollten, müßten wir deutlicher werden.“

Nicht nur baulich wankt das Bahnhofsgebäude einem Umbruch entgegen, auch was seine Besitzverhältnisse angeht: Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges zerfällt die „k.u.k. österr. Staatsbahn“, 1923 entstehen die „Österreichischen Bundesbahnen“ (ÖBB), die mit 1.1.1924 die Strecken und Bahnhöfe der Südbahngesellschaft übernehmen. Letztere lädt noch 1923 zu einem Architekturwettbewerb für den Neubau des Südbahnhofs Innsbruck. Die ÖBB bringen ihn zum Abschluss. Der Tiroler Anzeiger Nr. 83 verrät am 10. April 1924 das Ergebnis des Preisgerichts:

Die Eröffnung der verschlossenen Kennwortumschläge ergab als Verfasser der preisgekrönten Entwürfe: 1. Preis: Architekten Prof. Dr. Max Theuer, Dozent Dr. Erwin Böck und Assistent Doktor Fritz Zotter in Wien. 2. Preis: Architekten Franz Kahm und Alfons Hermanek – Wien. 3. Preis: Architekt Lois Welzenbacher-Innsbruck.

Die Innsbrucker Nachrichten ergreifen für die Pläne von Welzenbacher feurig Partei und kommentieren deren Ausstellung in der Kunsthandlung Unterberger. Die Schilderung der Architektenentwürfe bringt eine Aufregung und Hitzigkeit zu Tage, die man dem nüchternen Zweckbau „Bahnhof“ nicht zusprechen würde. Von Wahrheit und Trug, Blendwerk und Mummenschanz ist die Rede, sogar von Stilvergötterung und Ketzerei – hinsichtlich anderer europäischer Bahnhofsbauten. Offensichtlich erregt das Weglegen althergebrachter baulicher „Behübschung“ und die Besinnung auf nüchterne Form Innsbrucks Gemüter enorm.

Nur ein Bahnhof soll geschaffen werden, kein Blendwerk, und der entwerfende Architekt läßt sich keinen Deut von dem baulichen Grundgedanken abbringen. Draußen auf der Straße die Masse derer, die, in Trug und Verstellung befangen, auch durch die Architektur betrogen sein wollen und es nicht begreifen können, daß ein Künstler eine solche Gelegenheit nicht dazu ausnützt, in „Schönheit“ zu schwelgen, daß er vielmehr sich einer einfachen, herben, ja harten Formgebung bediente. Denen sei nun gesagt, daß ein Bahnhofbau, stilistisch ernst gefaßt, Mummenschanz nicht verträgt, was natürlich nicht gehindert hat, daß man in aller Welt Bahnhöfe zu Maskeraden gestaltet, als ob sich damit die Wahrheit verschleiern ließe, daß der Bahnhof in erster Linie ein Werk der Technik ist…

Dem flammenden Appell zum Trotz ist später wenig von den Sieger-Entwürfen im Bahnhofsneubau zu erkennen.

Foto: Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck

Der Bahnhof ist ein Schandfleck! Architekturwettbewerb und Aufregung